Freitag, 13. November 2015

An der Quelle

Polycarp war die letzten achtundvierzig Jahre im Spital gewesen, nicht etwa als Patient oder gar Arzt, nein er hatte als einfacher Lehrling in der Spitalverwaltung begonnen und sich dann allmählich hochgearbeitet und war Chef der Buchhaltung geworden. Als er anfang  sechzig war, wurde ihm „sein“ Spital praktisch unter dem Bürostuhl hinweg, fortrationalisiert. Er hatte aber Glück im Unglück, denn der Chefbuchhalter im nicht wegrationalisierten Gross—Spital in der Hauptstadt der Region war vor nicht allzu langer Zeit schwer erkrankt und konnte seine Arbeit nicht mehr aufnehmen. So wurde Polycarp der neue Chefbuchhalter in diesem wesentlich grösseren Spital. Damit hatte er allerdings von heute auf morgen seine Kompetenzgrenze überschritten.  Noch war er der einzige der es ins Geheim wusste, es sich aber natürlich nicht eigestehen konnte. Aus der perfekt geführten Zentralbuchhaltung wurde in nur wenig Monaten ein undurchschaubares Chaos, weil aber der Spitaldirektor—wie meist üblich—mehr aus politischen als aus Kompetenz—Gründen auf seinem luxuriösen Leder-Sessel klebte, merkte er lange nicht ,dass in der Zentralbuchhaltung eine Zeitbombe tickte. Erst als Reklamationen und Mahnungen nicht mehr ans Spital sondern an die Regionalverwaltung, nicht etwa nur geschickt, sondern per Bote gebracht wurden und auf dem Schreibtisch des Präsidenten landeten wurde es eng für Polycarp aber auch für den naiven Direktor. Muss das alles so kurz vor der Pensionierung passieren fragte sich der verzweifelte Polycarp und bereute zum ersten Mal in seinem Leben, dass er nicht—wie man ihm oft vorgeschlagen hatte—in die politische Mehrheitspartei eingetreten war! Also war es ihm klar, dass er keine Unterstützung erwarten konnte. Eines  Nachts—als schon die Untersuchung gegen ihn lief—schlich er sich, da er ja an der Quelle war, nachts in die Spitalapotheke und versah sich mit Medikamenten um sich gegebenen Falles selbst zu eliminieren. Es kam zu einer Vorladung. In dieser Nacht stopfte sich der Junggeselle Polycarp alle „besorgten Pillen“ rein und spülte sie mit Schnaps runter. Hätte Polycarp etwas von Medizin verstanden, läge er jetzt nicht in „seinem Spital“ durch den Pillen-Cocktail vergiftet,  des Denkens und Sprechens unfähig in einem dieser Sandwich-Betten  für hoffnungslose Fälle.

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