Mittwoch, 9. März 2016

Agathe die Erbtante

Sie war 1898 als jüngstes und fünftes Kind  in einer behüteten Familie  in einer süddeutschen oder österreichischen Kleinstadt zur Welt gekommen. Mit sechzehn, kurz nach dem Ausbruch des Krieges—der später als der erste Weltkrieg in die Geschichte einging—heiratete sie und  ihr Tanzschulpartner in den sie sich schon als Backfisch verliebt hatte. Wie bei so vielen, wurde die Ehe also etwas überstürzt geschlossen um den jungen Einberufenen  Halt  zu geben. Die Flitterwochen dauerte nur drei Tage, die Zeit der  Hochzeitsreise  in ein Hotel an einem der wunderschönen Seen der Gegend. Johann fuhr danach in den Krieg und Agathe begann, nach der erfolgreich bestandenen Reifeprüfung, ob Abitur in Deutschland oder Matura in Österreich sei dahingestellt, ihr Studium der Philosophie und Germanistik. Einmal noch kam Johann für eine Woche zum Urlaub, somit dauerte das eheliche Zusammensein gerade mal zehn ganze Tage und Nächte! Dann kam der so gefürchtete Brief: auf dem Feld der Ehre, fürs  Vaterland, dessen dank ihm gewiss sei…… Agathe trug‘s mit Fassung und Würde, verhärtete aber innerlich. Ihre zwei Brüder kamen unversehrt aus dem Krieg in die Heimat zurück heirateten und gründeten Familien. Auch die  Ehemänner der zwei Schwestern  hatten den Krieg  heil überlebt. Mit der Zeit hatte Agathe elf Nichten und Neffen. Agathe wurde zuerst Lehrerin später Leiterin einer Privatschule für „höhere Töchter“. Schon kurz nach Beginn ihrer Lehrtätigkeit zog sie zu ihren Schwiegereltern in das grosse Herrschaftshaus das in einem riesigen Park am Stadtrand stand. Die Schwiegereltern waren schon vorzeitig sehr gebrechlich geworden, der Kriegstod ihrer fünf Söhne hat ihren Lebensmut gebrochen. Johann war das einzige ihrer Kindere, dass kurz vor dem grossen „ Völkerschlachten“ seine Jugendliebe Agathe geheiratet hatte, die andren vier sind ohne eine Liebste zurückzulassen gefallen. Agathe hatte nie in Erwägung gezogen, einem anderen zu gehören, nein treu bis in ihren eigenen Tod wollte sie Johann bleiben. Sie wurde den Nichten und Neffen eine—zwar sehr strenge aber helfende—Mentorin für alle schulische Fragen. Viele Jahre später, die Schwiegereltern waren längst verstorben und Agathe lebte ganz alleine in den riesengrossen Haus, kamen die Grossnichten und Neffen regelmässig zu der schon lange im Ruhestand lebenden Grosstante. Jedes Weihnachtsfest  wurde  die ganzen  Grossfamilie zur Bescherung erwartet, alle Geschenke gehörten unter den riesigen Weihnachtsbaum. Agathe war aufs Alter hin sehr hager geworden, ihr Charakter war nun bissig böse.  Sommer wie Winter erwartete sie, dass die Jungmannschaft ihr zu Händen ging. Das Obst musste geerntet und eingekocht, der Rasen  gemäht und die Beete gepflegt werden. Immer sagte Agathe, ihr seid ja meine ganze Familie und meine Erben, und alleine schaffe ich das ja nicht.
Als Agathe—fast hundertjährig—eines schönen Tages nicht  zum Frühstück kam, wurde sie von der alten Aufwartefrau tot auf dem Klo sitzend ,mit der verrutschten Brille auf der langen Nase und einem Buch auf dem Schoss, gefunden. Zur Testamentseröffnung hatte der Notar alle Verwandten ins Haus bestellt. Nur die Grossneffen und Nichten erbten. Was sie erbten setzte sie aber doch sehr, zuerst Staunen und dann in grosse Wut. Alle Familienbilder und Fotos sowie die gesammelten Briefe und Postkartenalben waren ihnen zugedacht.                                                                                            Haus und Grundstück hatte Agathe vor Jahrzehnten—ohne irgendeines ihrer Geschwister zu informieren— einer grossen Immobilienfirma gegen eine  stattliche Leibrente veräussert. Übrigens war dies das schlechteste Geschäft der Käuferfirma, die über dreissig Jahre an den Vertrag gebunden war und bezahlen musste. Die vielen Möbel und Kunstgegenstände gingen an das Museum für angewandte Kunst.  Alle  Anwesenden gingen somit  leer aus. Blickte man in die ungläubig bestürzten Gesichter glaubte man das hämisch Lachen Agathas zu hören.




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