Sonntag, 26. Februar 2017

Flucht? oder Befreiung?

Ein ganzes Leben lang hatten sie, Gebhard und Regula nun schon zusammen—nein parallel—gelebt. Gebhard war als erfolgreicher Arzt immer sehr beschäftigt gewesen, die gemeinsamen Urlaube—Kinder waren ihnen nicht beschert gewesen—begannen meist mit einem Kongressbesuch an welchen dann einige Tage, nie mehr als eine gute Woche, angehängt worden waren. Regula lebte das ganze Jahr über sehr zurückgezogen, Freunde hatte sie kaum und als ihre Eltern gestorben waren—sie war ein Einzelkind gewesen—vereinsamte sie immer mehr. Trotz sehr guter finanzieller Lage lebten die beiden äusserst bescheiden fast schon ärmlich, sie hatten kaum Ansprüche und ausser Büchern und Schallplatten und natürlich Originalgrafik, kauften sie nur wenig. So war eine sehr grosse Sammlung von Kunst zusammengekommen. Wie andere ihre  Briefmarkensammlungen zu komplettieren suchen, hatte Gebhard die Manie alte Stiche zu sammeln. Wenn er einen Stich hatte musste er unbedingt al l e Stadien dieser Druckgrafik besitzen, dafür war ihm der Preis nie zu hoch!
Wochenende und Feiertage verbrachte Gebhard meist mit Musik und dem Betrachten und Ordnen seiner Kunstblätter. Da er es verabscheute, dass während dem Hören von Musik gesprochen wurde und es wurde immer Musik gehört, beschränkte sich die eheliche Unterhaltung auf einige Worte bei Tisch.
Nun hatte Gebhard die Praxis an einen jüngeren Kollegen übergeben und da er, genauso wie Regula keine wirklichen Freunde hatte verlief sein Rentnerleben—er war schon fast achtzig—sehr monoton. Regula zwang ihren Mann, zum Einkaufen mitzukommen, da sie nicht mehr so viel tragen konnte. Und so kam es regelmässig zu gehässigen Streitereien, jede Kleinigkeit war Anlass dazu. Bisher schien Gebhard nie gemerkt zu haben was auf den Teller kam, jetzt sagte er schon im Supermarkt was alles er nie gemocht hatte. Du, sagte er anklagend zu Regula, hast nie gemerkt was mir schmeckt und was ich verabscheue! Eines Freitag Morgens, man ging immer am Freitag zum Einkaufen, eskaladierte der Streit am der Fleischtheke, eigentlich ging es nur um eine Wurst, Gebhard hingegen schien es „UM DIE WURST“ zu gehen. Fortan schwieg er beim Einkauf. Da beide nie Autofahren gelernt hatten, musste alles nach Hause geschleppt werden. Meist gingen die beiden nach dem Supermarkt einen Kaffee trinken um in den Zeitschriften zu blättern. An einem der nächsten Freitage ging Gebhard nach der Kaffeebestellung kurz raus, wohl zur Toilette, dachte Regula. Seit diesem Moment blieb Gebhard verschwunden.
Regula war sich ganz sicher, dass ihm etwas zugestossen sein musste, denn er wäre freiwillig nie ohne seine Kunstsammlung weggegangen, sagte und dachte sie.
Kein Brief, kein Lebenszeichen, kein Bankverkehr, einfach weg war er. Hatte er die Flucht—was sollte es sonst sein als eine Flucht ? vorbereitet.

Nach kurzer Zeit erkrankte Regula an Demenz, von Gebhard hat man nie mehr etwas gehört.

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