Montag, 6. Juni 2016

Kaspar Hauser Trick

Ja genauso mache ich es, das steht fest, sagte sich Walid. Walid war mit knapp vier Jahren aus dem, im Bürgerkrieg verwüsteten, Beirut in die Schweiz gekommen. Er war eins von sieben Kindern, das jüngste und daher auch das verhätscheltste. Die fünf grossen Schwestern, die älteste war schon achtzehn, verwöhnten ihn und liessen ihm alles durchgehen. Walid war sehr intelligent aber auch sehr faul. Was ihm Spass machte lernte er in Windeseile, alles andere war ihm sch….egal. Dass er schon als Teenie auf die schiefe—sehr schiefe—Bahn geriet kann man bei dieser mangelhaften Erziehung verstehen. Die Mutter lebte in ihrer depressiv gefärbten Gegenwart und träumte nur von der Vergangenheit, sie überliess den Haushalt und die  Obhut der Kleinen ihren grossen  Töchtern. Der Vater war, wie viele Phönizier—die Libanesen sind ja die Nachkommen dieser Handelsnation— geschäftlich immerzu auf Reisen. Es gab da noch einen grossen Bruder, der war vor Jahren abgehauen, wo er war wusste keiner und ausser der Mutter schienen alle ihn vergessen zu haben.  Schon mit elf Jahren lernte Walid Drogen kennen, er hing ungehindert mit grösseren Jungs rum. Polizei, Jugendrichter temporäre Verwahrung, all dies war sein Alltag. Nach einem Bandenraubzug mit Autoklau und Einbruch wurde er mal wieder geschnappt, als einziger geschnappt. Er hielt dicht und wanderte das erste Mal in seinem schon ereignisreichen Leben in den Erwachsenen-Knast. Da, im Knast, fing er an zu lesen. Was Walid am meisten faszinierte war die Geschichte von Kaspar Hauser. Nicht die Wahrheit über diesen Findling, dessen Geschichte  die meisten Leser in Bann zieht, nein die Perspektiven die so ein Verhalten eröffneten interessierte ihn brennend. Und so kam es, dass Walid, kaum dem Knast entronnen, ins Ausland reiste. In einer Belgischen Kleinstadt, wo spielt für die Geschichte keine Rolle, tauchte eines schönen Tages ein in Lumpen gehüllter lang haariger bärtiger Mann auf der nicht sprechen konnte aber mit unmissverständlichen Gesten zeigte, dass er Hunger habe. Wie einst in Nürnberg kümmerte sich die Bourgeoisie um dies Naturkind, ein interessierter Seelenarzt nahm ihn bei sich auf. Dass Walid eines Nachts mit dem „Tafelsilber“—das heisst allem was wertvoll war— auf Nimmerwiedersehen verschwand und sich in einem anderen Land nach günstigen Kleinstädten umsah erstaunt wohl kaum jemand.

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