Mittwoch, 28. Oktober 2015

Solch ein Verlierer

Reiner war schon als Kind der treffende Beweis für die Richtigkeit des Murphy-Gesetzes. Warf er beim Spielen einen Gegenstand, so klirrte irgendwo eine Fensterscheibe. Bei Schneeballschlachten traf er immer einen unbeteiligten Erwachsenen, entweder eine alte Frau oder—was ja viel peinlicher war—einen Lehrer oder gar den vorbeigehenden Pfarrer. Strafe gab’s jedes Mal und da Reiner sehr sensibel war gab’s auch immer Tränen. Schon im ersten Schuljahr hatte er seinen Spitznamen weg, alle nannten ihn Reiner-der-Weiner. Reiner war ein recht guter Schüler, aber er hatte immer panische Angst vor jeder Art von Prüfung, Examen verhaute er  ausnahmslos. An eine höhere Schule war darum nicht zu denken, er machte mit Ach und Krach die Grundschule und die darauffolgende Sekundarschule. Als er dann eine Lehrstelle suchen musste, war er bei den Vorstellungsgesprächen so ungeschickt, dass die meisten potenziellen Lehrmeister nur achselzuckend absagten. Schliesslich nahm ihn eine Supermarktkette in ihrer  Lebensmittel-Abteilung auf. Bei der Arbeit war er einer der besten, warum er diesmal sein Examen nicht verpatzte ist ein undurchdringbares Geheimnis. Obwohl ihm immer wieder peinliche Fauxpas passierten—über die er zu lachen gelernt hatte—wurde er von seinem Chef sehr gefördert, denn er war fleissig und ehrlich. Schon in jungen Jahren wurde ihm in einer Kleinstadt eine kleine Filiale anvertraut und zum Erstaunen aller stieg der Umsatz überdurchschnittlich und die Filiale des ewigen Rivale-Supermarkts verlor einen grossen Teil seiner Kundschaft an den von Reiner geführten Laden. Im Privatleben ging es ihm nicht so gut, er verliebte sich in eine Serviererin die in der nahegelegenen grösseren Stadt, wo Reiner manchmal ins Kino ging, in einer etwas schummrigen Kneipe arbeitete. Erst nach der Hochzeit merkte Reiner wer seine Angetraute wirklich war. Hatte er es nicht gesehen oder wollte er es nicht wahrhaben, dass seine Frau sehr viele sehr enge Bekannte hatte? Die Ehe hielt kaum ein Jahr, die Konsequenz war aber sehr teuer für den, nun wieder weinerlichen Reiner. Er wurde geschieden und regelrecht gerupft. Erst viel später erfuhr Reiner, dass sein eigener Scheidungsanwalt einer der vielen Liebhaber seiner nun Ex-Frau gewesen war. Zu seinem Glück, war er beim Personal—das sich aber oft über ihn lustig machte—sehr beliebt .Es gab kaum Wechsel in der grossen Filiale der er nun vorstand. Reiner verliebte sich aufs Neue, diesmal in eine seiner Mitarbeiterinnen, die viel jünger war als er und die ihre Lehre bei ihm hier in der Filiale gemacht hatte. Weil Reiner überkorrekt war, bat er seine Veronika, doch in eine andere Filiale zu wechseln um mit ihr eine Liebesbeziehung zu beginnen. Veronika sagte ja, ging in den Hauptsitz und wurde—wohl ihrer Schönheit wegen—nach kurzer Zeit die geliebte vom Big Boss! Reiner wurde mal wieder zum Weiner. Viele Jahre später, er war in der Zwischenzeit, mehr schlecht als Recht, verheiratet und Vater vierer Kinder, erfuhr er bei einem Arztbesuch, dass er eine neurologische Erkrankung habe, die mit der Zeit zur Invalidität führen könnte. Keinem sagte er etwas davon, schloss aber eine—für seine Verhältnisse—riesengrosse Lebensversicherung ab. Er übte sich fast drei Jahre lang in Geduld, bisher hatte keiner seine noch diskreten neurologischen Ausfälle bemerkt. Eines Sonntag morgens fuhr er mit seinem Familienauto aus. Das Ziel war eine kleine wenig befahrene Bergstrasse die allgemein als gefährlich gemieden wurde und da stürzte er sich in den Abgrund. Ein Pilzsammler hörte und sah den Absturz, er kletterte sehr mühsam zum zerschellten Auto und fand einen wohl toten Insassen. Die gerufenen Retter stellten fest, dass der Verunfallte noch schwach atmete. Nun folgte  eine sehr schwierige Rettungsaktion. Der vom Unglück oder auch von Murphy verfolgte Reiner wartete nun schon seit Jahren als Tetraplegiker auf das Fortschreiten seiner Multiplen Sklerose.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen