Montag, 5. Oktober 2015

Wer sich selbst entsorgt hat ausgesorgt.

War es in den späten Siebzigern oder doch erst in den frühen Achtzigern, ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Auf jeden Fall war es an einem Donnerstag gegen Mittag, denn dieser Arzt empfing Aussendienst-Mitarbeiter, seit er vor einigen Jahren diese Praxis übernommen hatte, immer donnerstags. Ich kannte ihn seit langem, war er doch vor über zehn Jahren in ein Spital im Jura als Assistenzarzt gekommen. Ja er war, wie so viele seiner Kollegen, aus dem von Franco diktatorisch geknechtetem Spanien, nach seinem Studium zur Weiterbildung in die Schweiz gekommen. In den Spitälern war damals der Ärztemangel sehr gross, die Schweizer Assistenten blieben in den grossen Kliniken und die kleineren Spitäler rekrutierten ihre Assistenzärzte wo immer sie konnten. Die Iberische-Halbinsel war ein fast unerschöpfliches Reservoir für lernbegierige junge Mediziner. Im Laufe der Jahre habe ich dutzende von spanischen und portugiesischen Ärzten kennengelernt, nur wenige wollten nach der Ausbildung in ihr Heimatland zurück; viele von ihnen bekamen, nachdem sie  ein abgekürztes Schweizer Staatsexamen bestanden hatten, eine Praxisbewilligung, allerdings meist nur als „Allgemeinpraktiker“ die Fachärzte schützten ihre Pfründe sehr effizient.  Und so kam dieser Arzt –nennen wir ihn Pablo—in diese verwaiste Praxis irgendwo auf dem Land in der Westschweiz. Ich hatte mich immer sehr gut mit diesem, ein wenig wortkargen schüchternen, spanischen Arzt verstanden. Auch waren unsere Gespräche, trotz seiner Schüchternheit oft von touristischen, Spanien betreffenden, Tipps geprägt. An diesem Donnerstag nahm er sich sogar die Zeit, mir bei einem Reiseplan in seine Heimatprovinz zu helfen, ja er gab mir einige gute  Adressen von Hotels und Restaurants bekannt. Auch bat er mich, da und dort Grüsse zu bestellen und ihn nach meiner Rückkehr doch bald zu besuchen um mit ihm meine Reiseeindrücke zu diskutieren. Dann bat er mich noch um Medikamente-Muster, die ich ihm zu senden versprach. Als ich nach drei Wochen aus dem Urlaub zurück kam und mich bei meiner Chefin telefonisch zurückmeldete, fragte sie mich, mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme, ob ich oft „TOTE“ Kunden besuche? Ich verstand nicht worauf sie anspielte, bis sie mir sagte, dass Doktor Pablo verstorben sei und die angebliche gewünschten Muster von der Post als „nicht zustellbar, verstorben“ retourniert worden waren. Ich bin in circa drei bis vier Stunden bei ihnen im Büro, sagte ich bevor ich das Gespräch abrupt beendete. Ich fuhr nach Basel zur Chefin. Glücklicherweise hatte mir Pablo einen ganzen Ordner von Dokumenten geliehen, die, in Zusammenhang mit meinen Reisenotizen belegten, dass ich wirklich an jenem, nun schon vier Wochen zurückliegenden Donnerstag bei Pablo in der Praxis gewesen sein musste. Dort in Basel im Büro erfuhr ich auch, dass Doktor Pablo sich, kurz nach meinem Besuch, im Keller seines Hauses—in dem auch die Praxis war—ohne Abschiedsbrief, erhängt hatte. Hätte ich nichts belegen können, wäre der Zweifel –im Kopf meiner Chefin—an meiner Arbeit wohl immer dagewesen. Daraus habe ich auch hautnah erfahren wie unergründlich die Seele der Menschen sein kann!

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