Dienstag, 8. September 2015

Mademoiselle

Madeleine, war aus ihrem geliebten Jura nach Lausanne in die Schwesternschule des roten Kreuzes gekommen. Es war eigentlich schon immer ihr Wunsch gewesen Krankenschwester zu werden. Ja eigentlich eher Kinderschwester. Auch liebäugelte sie von Zeit zu Zeit mit der Idee als Kinderschwester in eine Mission geschickt zu werden, denn sie war doch recht aktiv in ihrer reformierten Gemeinde im südlichsten Teil des –damals noch ganz zu Bern gehörenden—Juras. Wie so oft im Leben kam alles anders. Madeleine machte ihre Schwesternschule ohne Probleme und war schon in jungen Jahren eine beliebte Kinderschwester, ja beliebt war sie bei allen, seien  es  Kinderärzte oder Mitschwestern, aber am meisten Erfolg hatte sie bei den Kindern. Auch mit den Eltern kranker Kinder konnte sie sehr gut umgehen. Sie war eine reizende junge Frau—natürlich damals noch Fräulein also Mademoiselle—für den Chefarzt der schon die sechzig überschritten hatte, war sie nicht nur reizend sondern sichtlich aufreizend. Damals blieben Chefärzte mindestens bis siebzig, konnten aber auch bis fünfundsiebzig bleiben; ein Desaster für nachrückende Oberärzte die sich entweder in Geduld hüllen oder in die Privatpraxis gehen und dadurch ihren Traum Chef zu werden begraben mussten. Erst förderte der Chefarzt diese bildhübsche Kinderschwester, bald schon sollte, oder durfte sie in seiner Praxis arbeiten. Es kam wie es kommen musste, eines Abends als Madeleine noch die Praxis aufräumte bedrängte er sie mit – wie er in seinem Kopf glaubte—betörenden Worten und als sie sich zu Wehr setzte wurde er grob und nahm sich das, was er glaubte das Recht zu haben, eben mit Gewalt. Irgendwann gab Madeleine ihre Gegenwehr auf und liess es über sich ergehen. Am nächsten Tag konnte sie nicht zur Arbeit gehen, sie blieb heulend und verängstigt zwei Tage im Bett. Auf die Fragen der Mitbewohnerinnen im Wohnheim antwortete sie sehr ausweichend. Dann rappelte sie sich auf und ging wieder ins Spital, weigerte sich aber in der Praxis des Chefarztes zu arbeiten. So hatte keiner Madeleine je gesehen, die sonst immer lachende fröhliche junge Schwester war in sich gekehrt und sehr ängstlich. Einige Tage später hatte sie Nachtdienst, der diensthabende Arzt war—damals ein absolutes Novum—eine Frau, nein eine „Mademoiselle“, Docteur Germaine B. Die Ärztin verwickelte Madeleine in ein—anfangs sehr harziges—Gespräch und erfuhr nach einiger Zeit was dieser „armen Kleinen“ geschehen war. Schon wieder dachte sich die Ärztin, aber es war in dieser Zeit unmöglich den „Gott Chefarzt“ anzuklagen, alle hätten geglaubt, dass diese junge Schwester sich nur wichtigmachen wollte. Germaine kümmerte sich sehr liebevoll um Madeleine und versprach ihr, sie sobald sie ihre Praxis fertiggestellt habe, werde sie Madeleine als Praxisschwester zu sich zu nehmen. Mademoiselle Docteur Germaine B. eröffnete in Lausanne die erste Privatpraxis für Kinderheilkunde der ganzen Westschweiz die von einer Frau, nein eben „Mademoiselle“ geführt wurde. Der Anfang war schwer, konnte man einer Frau trauen? fragten sich viele „Damen“ aus der guten Gesellschaft. Die ersten Patienten waren Kinder der armen und der „gefallenen Frauen“ die keinen Vater ihrer Kinder nennen konnten oder wollten. Glücklicherweise kam Germaine aus einer sehr reichen Familie, dadurch wurde die Durststrecke von mehreren Monaten überbrückt. Die Kinderpraxis war –wie damals gang und gäbe—in der sehr grossen Wohnung integriert. Mademoiselle Madeleine bewohnte das Dienstmädchen-Zimmer unter dem Dach. Als ich diese Ärztin in den frühen Sechzigerjahren als Vertreter besuchte waren beide, Mademoiselles schon über siebzig. Es war inzwischen stadtbekannt, dass sie ein engeres Verhältnis, als das von Arbeitgeberin und Angestellter, hatten. Offiziell wohnte Madeleine immer noch in der  ungeheizten Dienstboten Mansarde, und hatte natürlich auch einen eigenen Briefkasten, war aber durch die durchscheinenden Gardienen hindurch fast immer im gemeinsamen Schlafzimmer zu sehen. Oft sah man die beiden Fräuleins,  die sich nach wie vor mit Mademoiselle und „SIE“ ansprachen im Konzert oder Theater. Ich fragte mich damals, als mir ein älterer Arzt die ganze Geschichte erzählte, ob Madeleine nur aus der schlechten Erfahrung heraus oder aus Veranlagung in diese lesbische Zweisamkeit eingewilligt hatte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen