Madeleine, war aus ihrem geliebten Jura nach Lausanne in die
Schwesternschule des roten Kreuzes gekommen. Es war eigentlich schon immer ihr
Wunsch gewesen Krankenschwester zu werden. Ja eigentlich eher Kinderschwester.
Auch liebäugelte sie von Zeit zu Zeit mit der Idee als Kinderschwester in eine
Mission geschickt zu werden, denn sie war doch recht aktiv in ihrer
reformierten Gemeinde im südlichsten Teil des –damals noch ganz zu Bern
gehörenden—Juras. Wie so oft im Leben kam alles anders. Madeleine machte ihre
Schwesternschule ohne Probleme und war schon in jungen Jahren eine beliebte Kinderschwester,
ja beliebt war sie bei allen, seien
es Kinderärzte oder
Mitschwestern, aber am meisten Erfolg hatte sie bei den Kindern. Auch mit den
Eltern kranker Kinder konnte sie sehr gut umgehen. Sie war eine reizende junge
Frau—natürlich damals noch Fräulein also Mademoiselle—für den Chefarzt der
schon die sechzig überschritten hatte, war sie nicht nur reizend sondern sichtlich
aufreizend. Damals blieben Chefärzte mindestens bis siebzig, konnten aber auch
bis fünfundsiebzig bleiben; ein Desaster für nachrückende Oberärzte die sich
entweder in Geduld hüllen oder in die Privatpraxis gehen und dadurch ihren
Traum Chef zu werden begraben mussten. Erst förderte der Chefarzt diese
bildhübsche Kinderschwester, bald schon sollte, oder durfte sie in seiner
Praxis arbeiten. Es kam wie es kommen musste, eines Abends als Madeleine noch
die Praxis aufräumte bedrängte er sie mit – wie er in seinem Kopf glaubte—betörenden
Worten und als sie sich zu Wehr setzte wurde er grob und nahm sich das, was er
glaubte das Recht zu haben, eben mit Gewalt. Irgendwann gab Madeleine ihre
Gegenwehr auf und liess es über sich ergehen. Am nächsten Tag konnte sie nicht
zur Arbeit gehen, sie blieb heulend und verängstigt zwei Tage im Bett. Auf die
Fragen der Mitbewohnerinnen im Wohnheim antwortete sie sehr ausweichend. Dann
rappelte sie sich auf und ging wieder ins Spital, weigerte sich aber in der
Praxis des Chefarztes zu arbeiten. So hatte keiner Madeleine je gesehen, die
sonst immer lachende fröhliche junge Schwester war in sich gekehrt und sehr
ängstlich. Einige Tage später hatte sie Nachtdienst, der diensthabende Arzt
war—damals ein absolutes Novum—eine Frau, nein eine „Mademoiselle“, Docteur Germaine
B. Die Ärztin verwickelte Madeleine in ein—anfangs sehr harziges—Gespräch und
erfuhr nach einiger Zeit was dieser „armen Kleinen“ geschehen war. Schon wieder
dachte sich die Ärztin, aber es war in dieser Zeit unmöglich den „Gott
Chefarzt“ anzuklagen, alle hätten geglaubt, dass diese junge Schwester sich nur
wichtigmachen wollte. Germaine kümmerte sich sehr liebevoll um Madeleine und
versprach ihr, sie sobald sie ihre Praxis fertiggestellt habe, werde sie Madeleine
als Praxisschwester zu sich zu nehmen. Mademoiselle Docteur Germaine B. eröffnete
in Lausanne die erste Privatpraxis für Kinderheilkunde der ganzen Westschweiz
die von einer Frau, nein eben „Mademoiselle“ geführt wurde. Der Anfang war
schwer, konnte man einer Frau trauen? fragten sich viele „Damen“ aus der guten
Gesellschaft. Die ersten Patienten waren Kinder der armen und der „gefallenen
Frauen“ die keinen Vater ihrer Kinder nennen konnten oder wollten.
Glücklicherweise kam Germaine aus einer sehr reichen Familie, dadurch wurde die
Durststrecke von mehreren Monaten überbrückt. Die Kinderpraxis war –wie damals
gang und gäbe—in der sehr grossen Wohnung integriert. Mademoiselle Madeleine
bewohnte das Dienstmädchen-Zimmer unter dem Dach. Als ich diese Ärztin in den
frühen Sechzigerjahren als Vertreter besuchte waren beide, Mademoiselles schon
über siebzig. Es war inzwischen stadtbekannt, dass sie ein engeres Verhältnis, als
das von Arbeitgeberin und Angestellter, hatten. Offiziell wohnte Madeleine
immer noch in der ungeheizten
Dienstboten Mansarde, und hatte natürlich auch einen eigenen Briefkasten, war
aber durch die durchscheinenden Gardienen hindurch fast immer im gemeinsamen
Schlafzimmer zu sehen. Oft sah man die beiden Fräuleins, die sich nach wie vor mit Mademoiselle und „SIE“
ansprachen im Konzert oder Theater. Ich fragte mich damals, als mir ein älterer
Arzt die ganze Geschichte erzählte, ob Madeleine nur aus der schlechten
Erfahrung heraus oder aus Veranlagung in diese lesbische Zweisamkeit
eingewilligt hatte.
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