Mittwoch, 27. Januar 2016

Lahm aber keine lahme Ente

Patrizia war seit ihrem zweiundzwanzigsten Lebensjahr gelähmt. Kurz nach ihrer Hochzeit und der Geburt der „Heiratsgründe“ ein Zwillingspaar Christine und Christian getauft, erwischte sie der damals grassierende Polio-Virus. Patrizia hatte also—wie so viele in den späten vierziger Jahren Kinderlähmung. Dank der beiden, noch rüstigen Omas, wurden die Zwillinge zuhause aufgezogen. Gualtiero, ihr italienischer Ehemann war Handlungsreisender, er verkaufte sogenannte Konfektions- Massanzüge, die er den Kunden auf den Leib schneidern liess. Seine bevorzugte Klientele waren Ärzte, Zahnärzte und sonstige Freiberufler. In seiner Heimatstadt Prato, nahe bei Florenz gelegen fand man damals die besten Stoffe und –für Schweizer Verhältnisse—extrem billige Herrenschneider. Diese Schneider arbeiteten in den Kleiderfabriken der Stadt und verdienten sich abends noch ein gutes Zubrot. So   war Gualtiero meist die ganze Woche auf Kundschaft und fuhr dann am Wochenende nach Prato um Anzüge zu holen und neue in Auftrag zu geben. Einige Anzüge pro Woche am Zoll vorbei zu schleusen war kein grosses Kunststück, es genügte sie, statt auf Bügeln,  im Koffer zu transportieren. Oft kam Gualtiero wochenlang nicht zu seiner Familie, erstens hatte sich seine Passion für Patrizia –die ihn ja mit der Schwangerschaft reingelegt hatte—schon abgekühlt bevor sie richtig aufgeblüht war und zweitens gab es ja überall schöne—nicht gehbehinderte— Frauen die auf einen so schönen Südländer abfuhren. Patrizias Beine  waren zwar gelähmt, ihr Becken und der restliche Körper aber nicht. Fast alle jungen—auch sehr jungen –Männer und Jünglinge in der ganzen Gegend wussten, dass es sich immer lohnte, Patrizia einen Gefallen zu tun. Man konnte für sie einkaufen gehen oder auch im Haus helfen denn es gab ja Arbeiten die für die beiden Omas zu schwer waren. Intimer innigster Dank war ihnen gewiss, denn Patrizia war sehr ängstlich und trachtete danach  nicht allzu oft alleine im Bett liegen zu müssen. Viele Jahre danach, Gualtiero war schon längst, als starker Raucher, in  die damals grosse Lungenkrebsstatistik eingezogen, und hatte das Zeitliche gesegnet, nicht ohne hier und da noch einige Herzen gebrochen und mehrere Kinder gezeugt zu haben. Christine und auch Christian hatten so bald als irgend möglich die Mutter und ihre Liebhaber verlassen. Nun kam für Patrizia eine harte Zeit; die Omas waren längst im wohlverdienten Himmel, sie hatten aber mit ihren knappen Renten einen nicht unerheblichen Beitrag zum Wohlergehen der Familie geleistet und dies Geld fehlte nun auf sehr schmerzliche Art und Weise. Patrizia musste ob sie wollte oder nicht mit noch nicht mal fünfzig in ein Alters und Pflegeheim. Glücklicherweise standen dort jedoch viele noch recht rüstige Rentner zur Verfügung, welche sie gerne im Rollstuhl zu den lauschigen Plätzen im Park schoben und nachts im Bett warmhielten. Den manchmal aufflammenden Streit unter den Rentnern um die Gunst von Patrizia nahm diese genauso gelassen hin wie die Direktorin des Heims, die durch diese nächtlichen Aktivitäten viel Beruhigungs und Schlafmittel einsparen konnte. 

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