Dienstag, 6. Januar 2015

Das nie erklärte Verschwinden

Sie hatten sehr viel gemeinsam .Beide waren Einzelgänger. Alle beide waren von recht weit her in diese Stadt gekommen. Er hiess Polycarp ein Name der in gewissen Gebieten nicht ungeläufig ist und der die einzige  Erinnerung an seine Eltern war die ihm geblieben ist. Ja seine Eltern und die grosse Schwester kamen von einer Ferienreise nie zurück, sie waren in Afrika verschollen. Polycarp war damals zu klein gewesen um sich an seine Familie erinnern zu können, er wuchs im Waisenhaus auf, Verwandte hatte er nicht. Durch Fleiss konnte er sich allen Widrigkeiten zum Trotz bis zum Leiter der lokalen Filiale einer Fitness-Studio-Kette hocharbeiten. Dann kam für ihn DIE Gelegenheit. Er konnte mit den Ersparnissen der letzten zehn Jahre ein Fitness-Studio übernehmen. Er hat es einigermassen günstig haben können, weil der Vorbesitzer plötzlich schwer erkrankt war und entsprechend, auf einen raschen Abschluss drängte; dem armen blieb nicht viel Zeit hatte er doch einen Pankreastumor. Polycarp genügten die sozialen Kontakte die durch seine Arbeit zu Stande kamen, mehr Kontakte glaubte er nicht zu brauchen bis, ja bis Marilyn in sein Fitness-Studio kam. Sie sah wirklich nicht aus wie Marilyn, sie hasste ihren Namen den ihre Mutter ihr gegeben hatte, denn sie war so anders als die berühmte Marilyn, sie war klein dunkelhaarig mit olivfarbener Haut, keine Schönheit aber sehr energisch. Das musste sie auch sein, war sie doch Abteilungsschwester in der Psychiatrieabteilung des Stadtspitals. Also sie kam in sein Studio um sich wenigstens etwas anderes als die Arbeit, den Arbeitsweg und den Supermarkt, zu gönnen. Früher, in ihrer Heimatstadt, war sie viel joggen gegangen aber hier kannte sie die Gegend noch nicht und fand ein Studio irgendwie sicherer, man liest ja so viele Schauergeschichten. Das war so etwa alles was Marilyn ihm, so nach und nach, von sich erzählte, als er ihr die Geräte erklärte und sie ein Schnupper-Abonnement nahm. Gegen Ende der Abonnementsdauer lud er sie, aus Angst sie könne das Abonnement nicht erneuern, zu einem einfachen Essen in einem nahegelegenen Kaffeehaus ein. Alle beide kannten keine Lokale in der Stadt, sie gingen ja nie aus. Sie kamen sich langsam näher bei diesem Essen, sodass die Serviererin sie darauf aufmerksam machte, dass sie eigentlich um halb Zehn schliessen sollte, es war schon fast elf. Sie entschuldigten sich und verliessen das Kaffee. Und nun? Marilyn sagte Morgen lade ich sie—ach wollen wir nicht du sagen—? zum Essen ein. Beide waren eher wortkarg bei diesem zweiten Essen, aber es entstand so viel Spannung, dass eine Weiterführung der privaten Begegnungen automatisch stattfand. Irgendwann fanden sie sich, in der Wohnung die über dem Studio war, auf dem Sofa sitzend und sich in die Arme nehmend, wieder. Es wurde immer mehr zu einer festen aber nie besprochenen Beziehung. Marilyn verbrachte immer häufiger ihre Nächte bei und mit Polykarp; sie hatten natürlichen einfachen Sex, nichts besonders erotisches, es gehörte einfach  irgendwie dazu wie der Sport und die  Hygiene. Auch über Gefühle wurde kaum je gesprochen. Lag es an Polycarps Kindheit ohne Nestwärme? Marilyn sprach nie über ihre Familie oder ihre Kindheit, sie wich den Fragen nicht aus, sie beantwortete sie einfach nicht und fing an von etwas ganz anderem zu reden.  Doch oft redeten sie minutenlang überhaupt nicht miteinander ohne dass das Schweigen belastend wurde. Auch wusste Polycarp nicht genau woher sie kam, welche Stadt oder Gegend. Polycarp hatte sie einige wenige Male abends nach Hause begleitet, aber er kam nie in das Haus hinein, in dem ihre Wohnung war. Sie hatte zwei kleine Zimmer mit eigenem Bad in einer Villa gemietet, aber ohne eigenen Eingang, nein sie musste durch die Wohnung der Besitzerin—einer älteren Witwe—gehen; Männerbesuch war zwar nicht verboten aber stillschweigend nicht erwünscht. Dann eines Tages war Marilyn weg, verschwunden. Sie kam weder ins Fitness noch zu Polycarp in die Wohnung. Da sie beide ja nicht viel kommunizierten, glaubte er dass sie wohl ein Problem an ihrer Arbeitsstelle hatte. Also rief er, nach einigen Tagen im Spital an und bat, ihn mit Marilyn, in der Psychiatrie-Abteilung, zu verbinden. Welche Abteilung und wie war schon der Name? war die Antwort. Auf Wiederholung seines Wunsches kam die lakonische Antwort, wir haben keine Psychiatrische Abteilung und eine Marilyn arbeitet nicht hier im Spital.                                              Er war sprachlos, sind sie noch da fragte die Stimme am Telefon, er legte ohne Entschuldigung auf. Dann lief er, ja er rannte zur Villa wo sie wohnte. Am Briefkasten und an der Haustür fand er nur einen Namen wohl den der Vermieterin, er klingelte, eine sehr betagte schwerhörige Dame öffnete ihm vorsichtig die Tür, der Sicherheitskette wegen, nur einen Spalt breit .Schnell verstand er, dass Marilyn hier sicher nie gewohnt hatte. Er ging sehr niedergeschlagen nach Hause. Plötzlich eilte er zu seinem Schreibsekretär und sah nach seinen Papieren und Wertsachen, alles war da, unberührt so wie er es immer hinlegte. Marilyn war verschwunden, einfach weg grusslos gegangen. Polycarp verstand die Welt nicht mehr, er fragte sich was er wohl falsch gemacht habe, weil er ihr seine Liebe—ja es war wirklich Liebe—nicht gesagt hatte, so was hatte er eben nie gelernt aber sie musste es doch gefühlt haben. Er zog sich noch mehr von der Aussenwelt zurück und beschränkte seine sozialkontakte auf ein Minimum und nur fürs Studio. Er ging kaum aus, bestellte das notwendige per Telefon und liess es sich ins Haus liefern. Einige Jahre darauf, sein Studio lief so gut dass er schon zwei Angestellte hatte und eine kleine Filiale im Nobelquartier der Stadt eröffnen konnte, gewann er einen Wettbewerb der Lieferfirma seiner „Folterinstrumente“ also Fitnessgeräte. Der Preis war so verlockend, dass er ihn nicht verfallen lassen wollte. Nämlich eine Reise nach New York mit einem Ticket in der Exekutiv Loge für das Basketball Endspiel der Champions League und dies für zwei Personen. Mit viel Nostalgie dachte er, seit langem wieder, an Marilyn.                                               Er nahm  einen Mitarbeiter mit, der sehr gerne den Zuschlag für das Einzelzimmer bezahlte; seit seiner Zeit im Waisenhaus bestand er auf seine Privatsphäre! Sie waren zusammen an das Spiel gegangen, sonst ging jeder seinem eigenen Gelüste nach. Polykarp`s Traum war auf das Empire State Building zu gehen und so stellte er sich in die Warteschlange. Die Aussicht verschlug ihm den Atem, war dies doch alles in einem, seine erste Auslandsreise, erster Flug erstes Luxushotel erste U-Bahn einfach alles neu für ihn, er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und hier oben glaubte er eine Halluzination zu haben, ja er traute seinen Augen nicht was er sah war unmöglich! M a r i l y n   rief er ungläubig M a r i l y n   bist du es wirklich. Sie kam zu ihm umarmte  ihn, gab ihm einen Kuss und fragte—hast du alles gesehen, können wir gehen—hakte sich bei ihm ein und wandte sich zum Fahrstuhl. Völlig verstört liess er sich mitnehmen, sie führte ihn ins nächste Starbucks Kaffee. Als sie beim Kaffee sassen fragte sie, geht es dir gut, einfach so sonst nichts als ob sie sich noch gestern gesehen hätten. Verdattert erklärte er wieso er hier war und wann er wieder abfliegen musste, sie sagte, ich komme mit. Sie kam mit, ohne Gepäck, einfach nur mit einer recht grossen Handtasche, aus der sie beim Einchecken ihren Pass nahm. Da sah er zum ersten Mal ihren vollen Namen Marilyn Schwartz. Mit einer grossen Selbstverständlichkeit kam sie zu ihm in die Wohnung und richtete sich mit dem Wenigen was sie hatte ein. Über die vergangenen Jahre fragte er sie oft aus, Schweigen war ihre Antwort, keine Ausreden oder Ausflüchte nur Schweigen. Sie heirateten und hatten drei Kinder, aber über die Zeit der Trennung blieb ein Schleier von schweigen gebreitet.

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