Sie hatten sehr viel gemeinsam .Beide waren Einzelgänger.
Alle beide waren von recht weit her in diese Stadt gekommen. Er hiess Polycarp
ein Name der in gewissen Gebieten nicht ungeläufig ist und der die einzige Erinnerung an seine Eltern war die ihm geblieben ist. Ja seine Eltern und die grosse Schwester kamen von einer Ferienreise nie
zurück, sie waren in Afrika verschollen. Polycarp war damals zu klein gewesen
um sich an seine Familie erinnern zu können, er wuchs im Waisenhaus auf,
Verwandte hatte er nicht. Durch Fleiss konnte er sich allen Widrigkeiten zum
Trotz bis zum Leiter der lokalen Filiale einer Fitness-Studio-Kette
hocharbeiten. Dann kam für ihn DIE Gelegenheit. Er konnte mit den Ersparnissen
der letzten zehn Jahre ein Fitness-Studio übernehmen. Er hat es einigermassen
günstig haben können, weil der Vorbesitzer plötzlich schwer erkrankt war und
entsprechend, auf einen raschen Abschluss drängte; dem armen blieb nicht viel
Zeit hatte er doch einen Pankreastumor. Polycarp genügten die sozialen Kontakte
die durch seine Arbeit zu Stande kamen, mehr Kontakte glaubte er nicht zu
brauchen bis, ja bis Marilyn in sein Fitness-Studio kam. Sie sah wirklich nicht
aus wie Marilyn, sie hasste ihren Namen den ihre Mutter ihr gegeben hatte, denn
sie war so anders als die berühmte Marilyn, sie war klein dunkelhaarig mit
olivfarbener Haut, keine Schönheit aber sehr energisch. Das musste sie auch
sein, war sie doch Abteilungsschwester in der Psychiatrieabteilung des
Stadtspitals. Also sie kam in sein Studio um sich wenigstens etwas anderes als
die Arbeit, den Arbeitsweg und den Supermarkt, zu gönnen. Früher, in ihrer
Heimatstadt, war sie viel joggen gegangen aber hier kannte sie die Gegend noch
nicht und fand ein Studio irgendwie sicherer, man liest ja so viele Schauergeschichten.
Das war so etwa alles was Marilyn ihm, so nach und nach, von sich erzählte, als
er ihr die Geräte erklärte und sie ein Schnupper-Abonnement nahm. Gegen Ende
der Abonnementsdauer lud er sie, aus Angst sie könne das Abonnement nicht
erneuern, zu einem einfachen Essen in einem nahegelegenen Kaffeehaus ein. Alle
beide kannten keine Lokale in der Stadt, sie gingen ja nie aus. Sie kamen sich
langsam näher bei diesem Essen, sodass die Serviererin sie darauf aufmerksam
machte, dass sie eigentlich um halb Zehn schliessen sollte, es war schon fast
elf. Sie entschuldigten sich und verliessen das Kaffee. Und nun? Marilyn sagte
Morgen lade ich sie—ach wollen wir nicht du sagen—? zum Essen ein. Beide waren
eher wortkarg bei diesem zweiten Essen, aber es entstand so viel Spannung, dass
eine Weiterführung der privaten Begegnungen automatisch stattfand. Irgendwann
fanden sie sich, in der Wohnung die über dem Studio war, auf dem Sofa sitzend
und sich in die Arme nehmend, wieder. Es wurde immer mehr zu einer festen aber
nie besprochenen Beziehung. Marilyn verbrachte immer häufiger ihre Nächte bei
und mit Polykarp; sie hatten natürlichen einfachen Sex, nichts besonders
erotisches, es gehörte einfach irgendwie
dazu wie der Sport und die Hygiene. Auch
über Gefühle wurde kaum je gesprochen. Lag es an Polycarps Kindheit ohne
Nestwärme? Marilyn sprach nie über ihre Familie oder ihre Kindheit, sie wich
den Fragen nicht aus, sie beantwortete sie einfach nicht und fing an von etwas
ganz anderem zu reden. Doch oft redeten
sie minutenlang überhaupt nicht miteinander ohne dass das Schweigen belastend
wurde. Auch wusste Polycarp nicht genau woher sie kam, welche Stadt oder
Gegend. Polycarp hatte sie einige wenige Male abends nach Hause begleitet, aber
er kam nie in das Haus hinein, in dem ihre Wohnung war. Sie hatte zwei kleine
Zimmer mit eigenem Bad in einer Villa gemietet, aber ohne eigenen Eingang, nein
sie musste durch die Wohnung der Besitzerin—einer älteren Witwe—gehen;
Männerbesuch war zwar nicht verboten aber stillschweigend nicht erwünscht. Dann
eines Tages war Marilyn weg, verschwunden. Sie kam weder ins Fitness noch zu
Polycarp in die Wohnung. Da sie beide ja nicht viel kommunizierten, glaubte er
dass sie wohl ein Problem an ihrer Arbeitsstelle hatte. Also rief er, nach
einigen Tagen im Spital an und bat, ihn mit Marilyn, in der
Psychiatrie-Abteilung, zu verbinden. Welche Abteilung und wie war schon der
Name? war die Antwort. Auf Wiederholung seines Wunsches kam die lakonische
Antwort, wir haben keine Psychiatrische Abteilung und eine Marilyn arbeitet
nicht hier im Spital. Er
war sprachlos, sind sie noch da fragte die Stimme am Telefon, er legte ohne
Entschuldigung auf. Dann lief er, ja er rannte zur Villa wo sie wohnte. Am
Briefkasten und an der Haustür fand er nur einen Namen wohl den der
Vermieterin, er klingelte, eine sehr betagte schwerhörige Dame öffnete ihm
vorsichtig die Tür, der Sicherheitskette wegen, nur einen Spalt breit .Schnell
verstand er, dass Marilyn hier sicher nie gewohnt hatte. Er ging sehr
niedergeschlagen nach Hause. Plötzlich eilte er zu seinem Schreibsekretär und
sah nach seinen Papieren und Wertsachen, alles war da, unberührt so wie er es
immer hinlegte. Marilyn war verschwunden, einfach weg grusslos gegangen.
Polycarp verstand die Welt nicht mehr, er fragte sich was er wohl falsch
gemacht habe, weil er ihr seine Liebe—ja es war wirklich Liebe—nicht gesagt
hatte, so was hatte er eben nie gelernt aber sie musste es doch gefühlt haben.
Er zog sich noch mehr von der Aussenwelt zurück und beschränkte seine sozialkontakte
auf ein Minimum und nur fürs Studio. Er ging kaum aus, bestellte das notwendige
per Telefon und liess es sich ins Haus liefern. Einige Jahre darauf, sein
Studio lief so gut dass er schon zwei Angestellte hatte und eine kleine Filiale
im Nobelquartier der Stadt eröffnen konnte, gewann er einen Wettbewerb der
Lieferfirma seiner „Folterinstrumente“ also Fitnessgeräte. Der Preis war so
verlockend, dass er ihn nicht verfallen lassen wollte. Nämlich eine Reise nach
New York mit einem Ticket in der Exekutiv Loge für das Basketball Endspiel der
Champions League und dies für zwei Personen. Mit viel Nostalgie dachte er, seit
langem wieder, an Marilyn.
Er nahm
einen Mitarbeiter mit, der sehr gerne
den Zuschlag für das Einzelzimmer bezahlte; seit seiner Zeit im Waisenhaus
bestand er auf seine Privatsphäre! Sie waren zusammen an das Spiel gegangen,
sonst ging jeder seinem eigenen Gelüste nach. Polykarp`s Traum war auf das
Empire State Building zu gehen und so stellte er sich in die Warteschlange. Die
Aussicht verschlug ihm den Atem, war dies doch alles in einem, seine erste
Auslandsreise, erster Flug erstes Luxushotel erste U-Bahn einfach alles neu für
ihn, er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und hier oben glaubte er eine
Halluzination zu haben, ja er traute seinen Augen nicht was er sah war
unmöglich! M a r i l y n rief er
ungläubig M a r i l y n bist du es
wirklich. Sie kam zu ihm umarmte ihn,
gab ihm einen Kuss und fragte—hast du alles gesehen, können wir gehen—hakte
sich bei ihm ein und wandte sich zum Fahrstuhl. Völlig verstört liess er sich
mitnehmen, sie führte ihn ins nächste Starbucks Kaffee. Als sie beim Kaffee
sassen fragte sie, geht es dir gut, einfach so sonst nichts als ob sie sich
noch gestern gesehen hätten. Verdattert erklärte er wieso er hier war und wann
er wieder abfliegen musste, sie sagte, ich komme mit. Sie kam mit, ohne
Gepäck, einfach nur mit einer recht grossen Handtasche, aus der sie beim
Einchecken ihren Pass nahm. Da sah er zum ersten Mal ihren vollen Namen Marilyn
Schwartz. Mit einer grossen Selbstverständlichkeit kam sie zu ihm in die
Wohnung und richtete sich mit dem Wenigen was sie hatte ein. Über die
vergangenen Jahre fragte er sie oft aus, Schweigen war ihre Antwort, keine
Ausreden oder Ausflüchte nur Schweigen. Sie heirateten und hatten drei Kinder,
aber über die Zeit der Trennung blieb ein Schleier von schweigen gebreitet.
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